Das Phänomen des «verlorenen Zwillings» ist relativ wenig bekannt, obwohl mittlerweile auch die embryologische Forschung davon ausgeht, dass bis zu ein Drittel aller Schwangerschaften als Zwillings- oder gar Mehrlingsschwangerschaften beginnen. Die werdenden Eltern merken davon meist nichts, da sich der fötale Zwilling sehr oft nicht weiter entwickelt und von der Plazenta absorbiert wird oder in seltenen Fällen in den überlebenden Embryo einwächst. Der Zwilling oder Mehrling verschwindet noch bevor dann meist in der 9-12. Schwangerschaftswoche der erste Ultraschall gemacht wird. Effektiv geboren werden höchstens 2 – 5 % der Zwillinge, resp. Mehrlinge. Rund jede(r) Dritte von uns ist also nicht alleine im Mutterleib ganz am Anfang des Lebens, die Verbindung zum Zwilling wird als tief und innig wahrgenommen. Nisten sich zwei Embryonen oder mehr ein, so hören sie den Blutkreislauf des andern schon sehr früh, noch vor der 6. Schwangerschaftswoche, also noch bevor das Herz zu schlagen beginnt.
Überlebt nun einer der beiden Zwillinge die ersten Wochen nicht, so gräbt sich die Erinnerung dieses tiefgreifenden Verlustes tief ins Körpergedächtnis des überlebenden Embryos und prägt sein weiteres Leben. Die grosse Sehnsucht nach der verlorenen Bindung bleibt zeitlebens. Der Körper und die Seele erinnert sich später unbewusst sowohl an dieses tiefe Band der liebevollen Verbindung wie auch an das damit verbundene Trauma. Viele spätere Probleme wie etwa undefinierbare Ängste oder Panikattacken in engen Räumen, Schwierigkeiten, Bindungen einzugehen, Schuldgefühle, die Suche nach DEM einen Seelenpartner, quälende Einsamkeitsgefühle oder eine starke Sehnsucht nach Verschmelzung und Einheit, Überflutungsgefühle oder aber starke Verlustängste und vieles mehr können mit einer sehr frühen, pränatalen Erfahrung des verlorenen Zwillings zusammenhängen.
Anhand der systemischen Aufstellungsarbeit kann meist relativ klar erforscht werden, ob es einen verlorenen Zwilling (oder Mehrlinge) gibt oder nicht. Der Körper und die Seele reagieren meist eindeutig. Besteht hier eine klare Resonanz, so lohnt es sich, den Zwilling nun auf eine gute Weise zu verabschieden und das Trauma des Verlassenwerdens zu verarbeiten.
Sternenkinder werden jene Kinder genannt, die fehl- oder stillgeboren wurden. Sie haben ihren Platz in den Sternen. Eine von sechs Frauen erleidet eine Fehlgeburt in den ersten Wochen ihrer Schwangerschaft, mit 20'000 betroffenen Eltern pro Jahr in der Schweiz eine hohe Zahl. Wenn der Tag der Ankunft gleichzeitig auch der Tag des Verabschiedens ist, bricht eine Welt zusammen. Alles steht still… Wie das Undenkbare in Worte fassen? Anstatt ihr Kind willkommen zu heissen, müssen sich Eltern nun Gedanken machen, wie sie ihr Kind bestatten möchten. Jedes Paar geht mit diesem schwierigen Prozess anders um. Dabei kann es für die Eltern wichtig sein, in Ruhe mit viel Zeit Abschied zu nehmen von ihrem Sternenkind.
In den Spitälern erfahren heute Eltern eines Sternenkindes Gott sei Dank in der Regel professionelle Unterstützung durch Hebammen, Ärzte, Ärztinnen und psychologisch geschultes Personal. Sie begleiten die Eltern durch den schwierigen Prozess des Trauerns und Loslassens. Es gibt mittlerweile Vereine und Eltern-Gruppierungen, die auch nach den ersten Tagen eine grosse Stütze sind für die betroffenen Eltern. Eigens dafür geschulte Fotografinnen machen Erinnerungs-Fotos des Babys, die wichtig sein können für den späteren Trauer-Prozess.
Meine eigene Mutter hatte vor meiner Geburt drei Kinder totgeboren, eines war im ersten Trimester stillgeboren, ein zweites starb dann kurz nach der Geburt. Das dritte Sternenkind musste sie ein Jahr vor meiner Geburt dann im 8. Monat still gebären. Von meinem Zwilling, der vermutlich sehr früh wieder ging, wussten meine Eltern gar nichts. Als Letzte in der Geschwisterfolge trug ich lange unbewusst eine «Überlebensschuld» in mir. Ich hatte meinen Platz ja nur, weil die andern drei, resp. vier nicht überlebt hatten. Damals gab es keinerlei psychologische Unterstützung für meine Eltern. Man redete nicht darüber. Die Kinder wurden sogleich nach der Geburt weggenommen, meine Mutter sah keines ihrer stillgeborenen Kinder, die eben noch in ihrem Bauch waren. Sie wurde komplett allein gelassen mit ihrem traumatischen Erleben. Dadurch konnte dieses Trauma und der Verlust nie verarbeitet werden. Meine Mutter blieb deswegen – nebst anderem - zeitlebens in einer traumatischen Spirale aus Angst, Aggression, Erstarrung und Depression gefangen und war nicht fähig, ihren zwei lebenden Kindern die Bindung und Liebe zu geben, die mein Bruder und ich gebraucht hätten. Für mich eine grosse Motivation, heute Paare und Familien im Trauer-Prozess um ihr Sternenkind zu begleiten.
Welchen Weg auch immer Mütter und Väter heute mit ihrem Sternenkind gehen, es ist enorm wichtig, diesen Prozess bewusst zu machen und durch alle Phasen des Trauerns zu gehen. Gerade auch für verbleibende «überlebende» Geschwister hat der Tod des Geschwisterchens eine grössere Auswirkung als gemeinhin bekannt ist. In systemischen Aufstellungen zeigt sich immer wieder, wie wichtig Sternen-Kinder im System sind und wie wichtig es ist, dass auch diese Kinder ihren festen Platz im Familiensystem haben, dass ihr Tod gewürdigt und nicht verschwiegen wird. Wenn das Trauma, das mit einer stillen Geburt einhergeht, auf gute Weise verarbeitet ist, entsteht Raum für neue Lebendigkeit und das Fliessen der Liebe.
Verein Sternenkinder: www.mein-sternenkind.ch
Fachstelle Kindsverlust: www.kindsverlust.ch